9/13/2013

Im Varieté


Mir geht's schlecht. Ich bin traurig, frustriert. Ich brauche Flucht.

Yoga-Lehrer und Entspannungs-Gurus raten einem ja immer sich bei der Mediation einen "schönen Strand" vorzustellen. Ich finde Strände langweilig, ausserdem tritt man da auf Seeigel.

Ich fliehe daher lieber nach Amerikanien, dem Land meiner "Antique White House" Geschichten.

Also Augen zu - und  eingetaucht nach Amerikanien.

Die Fahrt zum Grand Théâtre du Milan ist angenehm.
Der Regen tropft auf das Stoffdach des Landauers. Wir sitzen zu dritt in der Fahrgastkabine; Der Präsident, Aldo Moro und ich. Wir schauen zum Fenster hinaus. Die Gaslaternen sind schon beleuchtet, ihr fahles Licht spiegelt sich auf dem regennassen Strassenpflaster. Die ersten, vergilbten Blätter fallen von den grossen Alleebäumen.

Wir kommen im Theater an und begeben uns zu unserer Loge.
Ich liebe Logenplätze!
Mal ehrlich: In den normalen Rängen sitzt garantiert immer ein zwei-Meter Typ mit Zylinder vor Dir und der pubertärere Bastard hinter Dir trampelt unentwegt gegen deine Rückenlehne. Von den schmatzenden und dauerquatschenden Sitznachbarn ganz zu schweigen.
In einer Loge hat man seine Ruhe. Und nichts brauche ich ich im Moment mehr.

Der Präsident setzt sich in die Mitte, Aldo und ich nehmen links und rechts von ihm Platz.

Als erstes tritt der Schwertschlucker auf. Er verschlingt nicht nur Schwerter und Säbel, sondern lässt auch allerlei Küchenmesser, Nägel, Lochmaschinen und einen Toaster in seinem Schlund verschwinden.
"Der Kerl sollte mal bei uns im Keller aufräumen" meint JFK.

Danach erleben wir ein aztekisches Frauenensemble. Sie singen Anti-Kriegslieder und kritisieren in satirischen Diskursen das Bankwesen und die Schönheitsindustrie.

Nach einer kleinen Pause ist das berühmte Medium Luba Milla an der Reihe. Sie steht auf der Bühne und spricht scheinbar wahllos Zuschauer an. Sie sagt ihnen, was sie morgen tun werden, wo sich deren verlorene Schlüssel befinden und andere erstaunliche Dinge.

Dann wendet sie sich dem Präsidenten zu:
"Sie suchen stets das Ende des Regenbogens. Sie suchen unermüdlich, immer weiter, obwohl sie wissen, dass sie es nie finden werden."
Der Präsident lächelt, amüsiert.
Dann spricht Luba Aldo an :
"Und Sie, Sie suchen auch das Ende des Regenbogens aber Sie finden dort nicht einen Kessel voller Gold, sondern allenfalls ein altes Seveso-Fass".
"Ja, das ist typisch für mich" stimmt Aldo zu.
"Und Sie..." Luba spricht nun zu mir: "Sie suchen gar nicht erst."

Natürlich nicht. Ich bin ja nicht bescheuert.

Die nächste Darbietung.
Zwei bizarre Clowns, Harlekine oder was immer diese Gestalten darstellen. Sie reissen merkwürdige, kryptische Possen. Das Publikum ist begeistert. Es ist die Nummer die bislang am besten ankommt, was ich befremdlich finde. Plötzlich giessen die beiden einen Eimer Blut auf die Bühne, streuen Zucker darüber und lachen. Dann starren sie zu uns hinauf. Sie geben zu verstehen, dass John F. 's Blut gemeint ist. Sie sagen es nicht offen, aber jeder im Saal weiss es.
Gesichter, kalt und ohne jedes Gefühl starren uns grinsend an. Ich friere. Aldo ist empört. Er steht auf und sagt: "Lasst uns gehen, wir haben hier nichts mehr verloren."
Das sehe ich auch so und erhebe mich ebenfalls.




Aber der Präsident packt uns und hält uns fest.
"Hiergeblieben!" Befiehlt er. "Hier geht niemand. Kein Rückzug!"
Wir setzen uns also wieder hin. Im Publikum prusten ein paar Leute vor sich hin. Viele finden das ganze sagenhaft lustig. Die Gestalt auf der Bühne kippt noch mehr Blut auf den Boden.

Aldo beugt sich nach vorne und ruft laut in den Saal: "Mögen Sie auf dem Glatteis ihres inneren Wesens ausrutschen und kopfüber in ein Seveso Fass fallen!"

Gut gesagt, wo wir es schon von Seveso-Fässern hatten...

Ich lege nach :" Und ich rolle das dann auf die Sondermüll-Deponie der Menschheit, wo abartiger Giftmüll wie Sie endgelagert gehört!"

Einige Zuschauer goutieren das gar nicht. Verständnislose Blicke wandern zu uns hoch. Hier und da raunt ein "Das war aber unangebracht" in den unteren Rängen.
Der blutige Ulk war offenbar in Ordnung, unsere Replik indes nicht.

JFK lächelt. Kraft seiner tiefen Dualität ist er einmal mehr hin und her gerissen. Einerseits kann er unsere überschäumenden Emotionen nicht wirklich gut einordnen, anderseits liebt er uns genau ihretwegen. Und er geniesst es, dass wir uns für ihn einsetzen. Schliesslich sagt er:

"Besagte Deponie dürfte bereits arg überfüllt sein. Ich würde die knappen Kapazitäten nicht mit Fässern trivialen Inhaltes ausreizen." Dann erhebt er sich. "Kommt. Verderben wir den Publikum nicht den Spass durch unserer Anwesenheit."
"Ich dachte, wir sollen uns nicht zurückziehen", flüstere ich ihm zu.

"Es gibt Rückzug und es gibt das zeitlich passende Stehenlassen" meint der Präsident. "Ihr müsst beide den Unterschied noch lernen."


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